Zur Liebe der Ignoranz – ein kritischer Kommentar 

Last updated 16. April 2024 | Webmaster

Zur Liebe der Ignoranz – ein kritischer Kommentar 

Geschichte ist eine reale Sache für sich, die auf viele Weisen erzählt wird. Sie ist von Diskursen geprägt. Doch was passiert, wenn man sie ignoriert? Wenn man sie als irrelevant abtut? Ist das dann auch ein Diskurs? Ein aktives und kritisches Geschichtsbewusstsein kann auf diese Fragen reagieren. Im Folgenden soll anhand von personellen und institutionellen Strukturen in Zusammenhang mit den kriegsverbrecherischen Taten der 110. Infanterie Division (ID) verdeutlicht werden, dass Lüneburg durch eine Liebe zur Ignoranz gegenüber der deutschen Tätergeschichte noch einen langen Weg zu gehen hat, um blinde Flecken im Gedächtnis der Stadt, ihrer Menschen und Institutionen aufzuarbeiten. Die Nachkriegserinnerung Lüneburgs erscheint wie eine kollektive kognitive Dissonanz: Ein Teil der Erinnerung wird zelebriert, ein Teil verdrängt.  Anhand der Karte wird die institutionelle Verstrickung Lüneburgs als geopolitischer Ausgangsort von militärischen Einsätzen und damit verbundenen Kriegsverbrechen im Zweiten Weltkrieg deutlich. Wie wird die Wehrmacht vor Ort gesehen? Welche Taten werden ausgeblendet? Wie verlief der Umgang mit der 110. ID nach Kriegsende? Eine Erinnerungspolitik etablierte sich, die in ihrer beharrlichen Selektivität als geradezu paradigmatisch ungewöhnlich für die gesamtdeutsche Erinnerungskultur gelten kann.

Die „Garnisonsstadt“-politik nach dem Krieg. Mit den militaristischen Vorlieben ist noch lange nicht Schluss.

Mit dem Ende des Krieges beginnt eine lange Zeit strategischen Vergessens. Seit 1956 diente Lüneburg ehemaligen Wehrmachtsmitgliedern des Veteranenverbands „ex-ID 110“ als regelmäßiger Treffpunkt. Bis 1990 fanden diese Versammlungen statt. Der Veteranenverband war 1956, zwei Jahre nach seiner Gründung – anlässlich der 1000-Jahr-Feier Lüneburgs – durch die damalige politische Führung Lüneburgs, Oberbürgermeister Peter Gravenhorst (Deutsche Partei) und Oberstadtdirektor Dr. Walter Bötcher eingeladen worden. Sein Einzug wurde in der Lüneburger Landeszeitung feierlich begrüßt. Die politische Landschaft Lüneburgs war zu diesem Zeitpunkt geprägt durch ein bemerkenswertes Netzwerk von nationalstrammen Akteuren. Oberbürgermeister Gravenhorst und Dr. Bötcher zählten zu den ehemaligen Wehrmachtsoffizieren, deren Karrieren in Führungspositionen der Lokalpolitik mündeten. Auch in der regionalen Presse zeigte sich diese Kontinuität. So wirkte der hochdekorierte Wehrmachtsoffizier Helmut Pleß 21 Jahre lang als Chefredakteur der Lüneburger Landeszeitung (LZ) (1962-1983). Daher erklärt sich vermutlich, dass neben wiederkehrenden Ankündigungen zu Treffen des Veteranenverbandes „ex-ID 110“, diverse affirmative Berichte seitens der LZ hinsichtlich dieser Zusammenkünfte archiviert sind. Aus diesen Berichten geht eine grobe Teilnehmendenzahl zwischen 100-300 Personen hervor.
Lüneburg fungierte bemerkenswerterweise als überregionaler Treffpunkt des Traditionsverbandes der gesamten 110 ID. Die Stadt spielte damit eine zentrale Rolle für den Zusammenhalt dieser Gruppe, ihrer Kohäsionsrituale und die damit einhergehenden Geschichtsbilder – selbsterzeugt und medial befördert. Dazu zählt auch die revisionistische Darstellung der Divisionschronik (1965) eines vormals führenden Offiziers der 110. ID, Ernst Beyersdorff. Darin wird die Rede zur Geschichte der 110. ID eines Ex-Kommandeurs derselben Division im Rathaus von Lüneburg im Juni 1958, Karl Kleyser, zu dieser Zeit bereits wieder Oberst im Generalstabsdienst der Bundeswehr, verarbeitet und weiter ausgeführt. Die Divisionschronik von Beyersdorff festigte ein exkulpierendes Narrativ, welches über das Darstellungsmonopol der lokalen Presse noch erweitert und verstärkt wurde.

Auf dem Weg zum „Ehrenmal“ der Ignoranz.

Diese Veteranenverbandstreffen waren bedeutsam vor dem Hintergrund, dass schon bald ein „Ehrenmal“ für die Kriegsverbrecher der 110 ID aufgestellt werden würde. Auch eine Rede von Ex-Wehrmachtsgeneralleutnant der 110. ID, Martin Gilbert, gleichfalls im Fürstensaal des Lüneburger Rathauses im Juni 1958, steht für die Willkommenskultur der Stadt. Im Rahmen einer Präsentation zur Geschichte und Identität der 110. ID würdigte Gilbert diese als „saubere“ Wehrmachtseinheit. „Der Kern der Einheit, deren Schicksal uns verbindet, war sauber, klar und echt wie Gold. Ich darf es aus eigenem Erleben und eigener Vergleichsmöglichkeit bekunden, dass die 110. Infanterie Division die Verkörperung besten deutschen Soldatentums leistungs- und gesinnungsmäßig von erster bis zur letzten Stunde gewesen ist.“ Im repräsentativsten Saal des Rathauses saßen Oberbürgermeister Gravenhorst und Oberstadtdirektor Bötcher, weitere Ratsmitglieder sowie der Traditionsverband der 110. ID. Ihr Übereinkommen bezüglich der makellosen Vergangenheit der 110. ID sollte sich noch lange fortschreiben.
1960 erhielt die 110. ID, auch „Wikinger Division“ genannt, ein „Ehrenmal“ am Graalwall in der Lüneburger Innenstadt. Auf dem Monument aus schwedischem Granit prangt das taktische Zeichen der 110. ID, ein Wikingerschiff. Das Symbol beschwörte seinerzeit einen, an Blut-und-Boden gekoppelten, nordischen Kult. Heute ästhetisiert es rückwirkend den Vernichtungskrieg gen die Sowjetunion und heroisiert die Wehrmachtseinheit. Im Namen der Stadt verlautbarte Ex-Wehrmachtsoffizier und Oberstadtdirektor Bötcher, es würde die Heidestadt das Ehrenmal „so pflegen“, dass „dieser Platz zu einer würdigen Stätte des Gedenkens wird“ (LZ, 1960).
Ebenfalls investiert in das „Ehrenmal“ war die Bundeswehr: Mittels sogenannter „Ehrenwachen“, welche während der Einweihung und in den kommenden Jahren abgehalten wurden, fungierten diese militärischen Totenwächter als Schutzeinheit für die idealisierte Reputation der Wehrmachtsdivision. Darstellungen der öffentlichen Zeremonien lassen sich in der LZ bis zum Jahre 1990 finden. 
Ergänzt wurde die Verankerung der 110. ID im lokalen kulturellen Gedächtnis noch durch einen „Gedenkstein“ für diese Einheit. Dieser wurde 1960 im Ehrenhain der Scharnhorstkaserne – auf dem heutigen Universitätscampus – platziert. Bis 1993 verweilte der „Gedenkstein“ an dieser Stätte, bis er in den naheliegenden Ehrenhain der Theodor-Körner-Kaserne umverlegt wurde. Zuletzt wurde besagtes Relikt dort noch 2016/17 fotografiert. Aktuell ist der Verbleib unbekannt.
Bis in die 2010er Jahre hinein, d.h. über drei Generationen Lüneburger Bevölkerung, blieb die erschütternde Geschichte der 110. ID unbeleuchtet, ihre Verbrechen verborgen gehalten.

Stadtpolitik der Gleichgültigkeit

Erste Hinweise darauf, dass die 110. ID an Kriegsverbrechen beteiligt gewesen sein muss, tauchen in Lüneburg nach lokal ignorierten Hinweisen im Rahmen des Nürnberger Prozesses, erst wieder 2014 auf, vermittelt über einen Vortrag in Karlsruhe zur 35. ID, einer Division, die gleichfalls am Massaker im Raum Ozarichi 1944 beteiligt war. 
In Reaktion auf eine erste Auseinandersetzung mit dem Thema wurde 2014 das Ehrenmal als einer von 24 Erinnerungsorten in den sogenannten „Friedenspfad“ – einem „Stadtrundgang zu Denkmalen und Orten des Gedenkens“ in Lüneburg – aufgenommen. Hervorgegangen aus der Friedensstiftung Günter Manzke sollte dieser „Stadtrundgang“ den Zweck erfüllen, zu „gedenken“. Tatsächlich knüpfte er, was das Monument für die 110. ID betrifft, jedoch an den Spruch dieses „Ehrenmals“ an: „Es sage keiner, dass unsere Gefallenen tot sind“. Der sog. Friedenspfad steht in dieser rhetorischen Tradition. Eine kleine Tafel wurde zunächst im Abstand von ca. 30 Metern zu dem „Ehrenmal“ platziert, um dieses zu kommentieren. Zu lesen waren die Worte: „Das Kriegstrauma lässt die Toten nicht ruhen“. Begleitinformationen sprachen von einem „Denkmal“ und führten aus: „Von 10.500 Mann vor der Kesselschlacht bei Minsk 1944 gelang es nur etwa 300, zu entkommen“. Eine Zuspitzung der düsteren Bilanz kann in der LZ gefunden werden, die aus dem NS-Publikationsorgan „Lüneburger Anzeigen“ hervorging. Die Zeitung berichtete in der Vergangenheit mehrfach von mindestens 1000 Soldaten der 110. ID, die den Krieg überlebt hätten. Die Tafel samt Inhalt ist, nach fortdauerndem Protest, mittlerweile nicht nur in größere Nähe zum Ehrenmal gerückt, sondern auch erneuert worden, ohne dass jedoch eine (vorläufig) endgültig Lösung gefunden worden wäre. Auf den Umstand der dubiosen Denkmalpflege wurde erstmals, aufmerksamkeitserregend, im Zusammenhang mit dem Prozess gegen SS-Mitglied, ehemals tätig im KZ-Auschwitz, Oskar Gröning hingewiesen, der 2015 in Lüneburgs Ritterakademie stattgefunden hat.
Bernadette und Joachim Gottschalk aus Laatzen bei Hannover zeigten sich über die zynischen Euphemismen des damaligen „Friedenspfades“ bestürzt und empört. Sie nahmen an dem Prozess als Angehörige von Opfern der Shoah teil. Das Ehepaar Gottschalk monierte das „Ehrenmal“ und den damaligen Umgang der Stadt damit, welche ihre Verwandten als re-traumatisierend empfanden. Sie forderten eine neue Infotafel, welche die Verbrechen der 110. ID im Raum Ozarichi klarstellt und das „Ehrenmal“ in Zusammenhang mit der Shoah, also dem nationalsozialistischen Völkermord an den Juden und Jüdinnen, verdeutlicht. Eine Protestaktion machte auf die Situation aufmerksam: „Gericht klagt KZ-Aufseher an – Lüneburg ehrt Kriegsverbrecher der 110.Inf.Div.“. Das in der Landeszeitung dokumentierte Plakat war in der Straße Am Graalwall angebracht und wies auf die schmerzliche räumliche Nähe des Gröning Prozesses zum „Ehrenmal“ hin. Die Gottschalks erhoben Anklage gegen die Stadt Lüneburg wegen „Gedenken unter Ausschluss der Opfer“, „einseitiges unreflektiertes Gedenken an diese Division“, unterlassene „Geste der Empathie und der Versöhnung“, „Schmähung gegenüber den Überlebenden der Schoah und ihrer Familien“ und dem Unterhalten einer „faschistische(n) Erinnerungskultur“. Sie stellten ein „Gedenken“ solchergestalt in Frage und hielten fest, dass die Stadt für eine Anerkennung der Kriegstraumata seitens der Mörder warb, nicht aber die Opfer in irgendeiner Weise berücksichtige. Sie haben schließlich mehrere Klagen gegen die Stadt eingereicht. 
Im März 2017 erstellte Prof. Dr. Christoph Rass, ein führender Forscher auf dem Gebiet des Kriegsverbrechens in Ozarichi und Mitglied der Historischen Kommission Niedersachsen und Bremen, auf Anfrage des Dekans Kulturwissenschaften der Leuphana, ein Gutachten an, speziell zur Beteiligung der 110. ID an dem Kriegsverbrechen. Aus dem Gutachten geht hervor, dass die Beteiligung der 110. ID drei Felder umfasste: Die Deportation von etwa 3000 Einheimischen, die Errichtung von zwei Zwischen- und zwei Endlagern mit vermutlich bis zu 3600 Toten im Bereich der 110. ID sowie die Zuteilung von 250 Personen, die Zwangsarbeit leisten mussten. Im selben Monat stellte Rass sein umfassendes Forschungsmaterial für die Kunstraumausstellung „Hinterbühne I“ an der Leuphana Universität zur Verfügung. Die Ausstellung – im Internet noch nachzulesen – widmete sich den Geschehnissen in Ozarichi. Reaktionen auf das Gutachten und die Kunstraumausstellung zeigten sich in den folgenden Tagen und Wochen vor allem in Form von opponierenden Interventionen am „Ehrenmal“ der 110. ID und der Erläuterungstafel des „Friedenspfads“.
Im August 2017 empfingen die Leuphana Universität und die Vereinigung der Verfolgten des Nationalsozialismus (VVN Lüneburg) im Rahmen eines Austausches im Kunstraum der Leuphana sechs weibliche Überlebende des Kriegsverbrechens in Ozarichi. Sie hatten den Mut, der Einladung zu folgen und nach Deutschland zu kommen. Umso beschämender steht ein Interview im Raum, welches rund ein halbes Jahr später, im Januar 2018, veröffentlicht wurde. Auf dem nun gelöschten YouTube Kanal des Shoahleugners und selbsternannten „Volkslehrer“ Nicolai Nerling, der als rechtsextremer Influencer bis heute Schlagzeilen füllt, wurde der Historiker und lokale CDU-Politiker Dr. Gerhard Scharf, insgesamt über 25 Jahre Bürgermeister Lüneburgs, vor dem „Ehrenmal“ der 110. ID zu dessen gezielt aktionistischer Entweihung und zum Empfang der Überlebenden im Rathaus befragt. Dr. Scharf sprach von einem „Skandal“, einem „Riesentheater“, das gegen die braven Soldaten der 110. ID gerichtet war. Während das Massaker in Ozarichi in der wissenschaftlichen Forschung als eines der größten und widerwärtigsten Verbrechen der Wehrmacht überhaupt gilt, beteuerte Dr. Scharf gegenüber dem Volkslehrer und seinen Zuhörern: „Da geht einem das ‚Messer in der Tasche‘ auf.“ Er warf den Kritikern vor, sie würden das „Ehrenmal“ entfernen wollen und verunglimpfte die durchaus sehr heterogene Konstellation der Widerständigen verallgemeinernd als „Linke“.
Des Weiteren kommentierte Dr. Scharf in Bezug auf die Kriegsverbrechen im Raum Ozarichi, dass diese ausschließlich auf freiwilliger Basis von Sonderkommandos vollbracht worden wären. Die restlichen 11.000 Soldaten seien damit beschäftigt gewesen, „sich die Russen vom Leibe zu halten“. „Volkslehrer“ Nicolai Nerling arbeitete bis zu seiner Suspendierung 2018 als Grundschullehrer in Berlin und ist, mit einer zwischenzeitlichen Reichweite von rund 70.000 Abonnent*innen auf seinem Sendekanal, ein wesentlicher Mittler für rechtsextreme Propaganda.
Trotz eines Abwahlantrags der Fraktion Die Linke im Stadtrat von 2018 blieb Dr. Scharf bis zuletzt im Amt: Mit 20 zu 17 Stimmen wurde er bestätigt. Erst im September 2021 zog sich Scharf aus der Politik zurück. Er erhielt im Oktober 2021 den Ehrenring der Stadt Lüneburg, da er, wie es in der Laudatio hieß, sich „in außergewöhnlichem Maß um die Stadt verdient gemacht“ habe.

Fazit

Diese Darstellungen machen deutlich, dass die Lüneburger Stadtpolitik bisher ein eingeschränktes Geschichtsbewusstsein pflegt. „Die Liebe zur Ignoranz“ soll symbolisieren, wie sich hier in Lüneburg ein politisches und psychologisches Schauspiel der besonderen Art abgespielt hat. Das systematische Vergessen innerhalb des gepflegten Filtergedächtnisses ging aus einer Wechselwirkung multipler Faktoren hervor und konnte sich auf Grund lokaler Bündnisse besonders lange unbehelligt halten. Die vorliegende Karte stellt sich dem systematischen Vergessen entgegen: Sie nimmt Stellung gegen die gewachsene Ignoranz und entlarvt die Scheinheiligkeit des bisherigen, verspäteten Umgangs mit der Wehrmachtsvergangenheit. Es braucht diese Karte, es braucht diese Aufarbeitung, immer wieder. Dass es noch immer kein Denkmal für die Opfer der Täter gibt, die von Lüneburg aus Kriegsverbrechern begannen haben, ist bezeichnend. Als Studierende an einer Universität in einer Stadt mit langer Tradition des Militarismus wollen wir die Aufarbeitung der militärischen Vergangenheit voranbringen. Es gibt weiterhin große Lücken. Diese Karte soll kommenden Generationen Studierender und Interessierter als Wegweiser auf dem Weg des Erinnerns dienen.